Wikinger Leif Eriksson: Land in Sicht


Es ist eine Reise ins Ungewisse: Vor rund 1000 Jahren heuert der Wikinger Leif Eriksson 35 kräftige Männer an, verlässt das karge Grönland und sucht neues, saftiges Weideland. Am Ende entdeckt er mehr als eine paradiesische Küste.
Die Wikingersiedlung Brattahild im Süden Grönlands um das Jahr 1000. Ein eisiger Winter. Drinnen, in einer fensterlosen Hütte, glimmen Holzscheite auf einer Feuerselle. Drumherum sitzen fast ein Dutzend Bärtige und lauschen den Geschichten eines jungen Mannes. Aufgeregt erzählt der Kaufmann, dass er auf einer Irrfahrt über den Atlantik unbekanntes Land gesehen habe. Ungemein grün soll es sein; bewaldete Küsten, dahinter endlose Weiden. Ein Paradies im Vergleich zum kargen Grönland, wo es die Sonne winters kaum über den Horizont schafft und alles Leben unter einer dicken Eisdecke erstarrt. Wo genau dieses Land liegt, will einer aus der Runde wissen, der den Erzählungen des Mannes ganz besonders aufmerksam zugehört hat: Leif Eriksson, klug, kräftig, etwa 18 Jahre alt. Irgendwo Richtung Westen, bekommt er zur Antwort.
Leif Eriksson geht diese Geschichte nicht mehr aus dem Sinn. Er ist der ältere Sohn Eriks des Roten, des Entdeckers von Grönland, die Abenteuerlust liegt ihm im Blut. An einem der folgenden lichtlosen Tage fasst er deshalb den Entschluss: Er selbst will sich aufmachen, dieses neue Land zu finden.
Und so heuert Eriksson im Frühjahr des Jahres 1001 gleich 35 Männer an und kauft einen Knarr; ein dickbauchiges, robustes Schiff aus Eichenplanken, das man gut segeln, bei Flaute aber auch rudern kann.
Eriksson lässt seine Männer Frischwasser in hölzernen Fässern laden, getrockneten Fisch und Robbenfleisch, beides in wasserdichten Häuten vernäht. Auch Äxte und Spaten stapeln sie an Bord. Dazu Schwerter, Schilde, Speere, Helme für den Fall, dass sie das neuentdeckte Land erst einmal erobern müssen. Aber darin sind die Wikinger ja geübt. Durch Raubzüge haben sie sich seit dem 9. Jahrhundert ein riesiges Reich zusammengeplündert, das sich vom Nordatlantik bis zum Mittelmeer erstreckt.
Weit mehr als Gegner fürchten die Nordmänner die Eisberge, die auf dem Meer treiben. Träfen diese das Schiff, es würde in Sekunden zerbersten. Darum bläst Leif Eriksson erst zum Aufbruch, als Anfang August die meisten Eisberge geschmolzen sind. Seine Männer setzen das rechteckige Rahsegel, das an einem Querbalken aufgehängt ist. Sofort fängt sich der Wind darin und schiebt das Schiff aus dem Fjord heraus: Kurs Nord, die grönländische Westküste entlang. Dann weiter, Richtung Westen auf die offene See.
Es ist eine Fahrt ins Ungefähre. Leif Eriksson kennt sein Ziel schliesslich nur aus der Erzählung. Er besitzt keine Karte, keinen Kompass, keinen Sextanten, mit denen Seefahrer späterer Jahrhunderte den Kurs festlegen. Er orientiert sich einzig am Stand der Sonne.
Ein Mann muss ständig Ausschau halten, das Meer nach Eisbergen absuchen und den Horizont nach verheissungsvollen Spiegelungen. Denn Gletscher, die die Küsten krönen, reflektieren das Licht – und künden so Land an, lange bevor man es sehen kann. Nach zwei Tagen schlägt der Ausguck Alarm: Gletscher und turmartige Wolken, wie es sie nur über Festland geben kann!
Leif Eriksson lässt Anker werfen und rudert im Beiboot an Land. Doch dort gibt es weder Wald noch Wiesen, nichts, wovon der junge Kaufmann so geschwärmt hatte. Stattdessen gleicht dieses Land einem Teller aus Eis und Stein. Leif Eriksson beschliesst, ihm den Namen Helluland (vom altnorwegischen helle = Steinplatte) zu geben – und dann wieder aufzubrechen. Der Knarr gleitet die schroffe Küste entlang. Ein, zwei Tage, dann gibt der Beobachter im Ausguck erneut ein Zeichen. Doch auch die zweite Küste entspricht nicht der Erzählung; weisser Sandstrand, dahinter Wald. Deswegen taufen die Wikinger diesen Streifen Markland (nach dem altnorwegischen mark = Wald).
Wald ist wertvoll, sicher. Doch die Wikinger sind ein Volk von Viehbauern. Weideland für Rinder, Schafe, Ziegen ist daher wichtiger als alles andere. Also weiter! Denn schon in wenigen Wochen werden Eisberge, Sturm und Nebel das Meer wieder unpassierbar machen.
Leif Eriksson umklammert das hölzerne Ruder am Heck und lenkt sein Schiff durch die Wogen. Mancher an Bord wird ungeduldig, fürchtet, Margygjar werde sie holen, der schreckliche Meerestroll. Oder Hafgerdingar, der Hüter der Wellen, der ganze Schiffe verschlingt. Stunde um Stunde segeln sie durch das eisgraue Meer, immer weiter südwärts. Aber dann, wieder zwei Tage später, taucht am Horizont erneut ein grüner Schimmer auf: Land!
Vorsichtig lässt Leif Eriksson den Knarr in eine Bucht steuern: Ein Strand, ein Fluss, Tannen-, Fichten- und Lärchenwälder. Und dazwischen Wiesen, sattgrün, von Blumen betupft – das ersehnte Paradies? Er nennt das Land Vinland (nach dem altnorwegischen vin = Weide).
3500 Kilometer ist er von Brattahild bis an diese Küste gesegelt, wo seine Männer bald eine kleine Siedlung aufbauen: Drei Häuser und drei Nebengebäude, in denen sie den Winter überdauern.
Dass Leif Eriksson auf seiner Fahrt über das Meer Amerika entdeckt hat, weiss er nicht. Niemand hat ein Logbuch geführt. Und die kleine Wikingersiedlung wird, noch bevor ein Jahrhundert um ist, wieder aufgegeben. Warum? Das weiss heute kein Mensch mehr. Ja, Leif Eriksson selbst gerät bald in Vergessenheit – und so die ganze Geschichte.
1492 geht Christoph Kolumbus in Amerika an Land. Seither gilt er als Entdecker des Kontinents. Und nur fünf Jahre später stösst John Cabot, ein Italiener in englischen Diensten, erneut auf die Küste von Vinland. Er nennt seine Entdeckung «Neufundland». Diesen Namen trägt die Insel an der Ostküste Nordamerikas bis heute.

Text zur Verfügung gestellt von GEOlino