Hörbehinderte Kinder

Spracherwerb

PDF Spracherwerb und Kultur Seite 3 bis 6Beim Spracherwerb wird vor allem zwischen Erst- und Zweitspracherwerb unterschieden. Der Spracherwerb kann gesteuert oder ungesteuert erfolgen. Was heisst das?
Der Erstspracherwerb ist diejenige Sprache, die wir als erstes Erwerben, früher wurde dies Muttersprache genannt. Zweitspracherwerb ist somit eine zweite Sprache, welche wir erst als zweites erlernen.
Ungesteuert Spracherwerb
Der ungesteuerte Spracherwerb bezeichnet eine Spracherlernung, ohne bewusstes Erlernen, es findet ein stets unbewusste und implizites Vorgang in natürlicher Umgebung statt. Man erwirbt die Sprache durch alltägliche soziale Kontakte, etwa beim Einkaufen” oder beim Spielen”.
Gesteuert Spracherwerb
Das gesteuerte Sprachenlernen hingegen erfolgt bewusst, ist explizit und findet also mit Lehrern innerhalb von Institutionen wie der Schule statt.
Erstspracherwerb
Normalerweise verläuft der Erstspracherwerb ungesteuert. Kleinkindern lernen von Ihre Eltern, Geschwistern und der Familie. Die Kinder sind im Alter von 0 bis 3 Jahren wie ein Schwamm, der die Sprache aufsaugt.
Hörende Kinder nehmen die Gespräche übers hören wahr. Nicht nur, wenn sie direkt angesprochen werden, sondern auch, wenn die Eltern sprechen und sie selbst eigentlich am Spielen sind. Sie lernen unbewusst, sich übers Hören zu orientieren.
Diesen automatischen Spracherwerb haben gehörlosen Kindern von 0 bis 3 Jahren nicht. Sie hören nichts. Nur was sie über die Augen voll wahrnehmen, wird ihnen Bewusst, sei dies nun Bewegungen die sie beobachten können (Körper, Mimik und Händen) oder Veränderungen, die sie feststellen können (z.B. Gegenstände sind weg oder liegen anders). Da sie gesprochene Informationen nicht hören, können sie auch keine Verknüpfungen der Gespräche mit Situationen machen. Nur was wirklich mit visuellen Wahrnehmungen aufgenommen werden kann, prägt diese Kinder. Da die Wahrnehmung über das Auge erhöhte Aufmerksamkeit erfordert, ist ein automatischer Spracherwerb wie bei hörenden, nicht möglich. Es ist deshalb umso wichtiger, dass bereits in diesem jungen Alter eine visuelle Sprache geboten wird. Sonst sind gehörlose Kinder gleich zweifach benachteiligt. Und welche Eltern möchten ihre eigenen Kinder benachteiligen? Mit einer visuellen Sprache können auch gehörlose Kinder die Sprache wie ein Schwamm aufnehmen.

Mit dem Spracherwerb findet gleichzeitig auch eine Wissensvermittlung statt. Ohne Sprache gibt es jedoch keinen Zugang zu diesem Wissen:

Sprachliches Wissen (zur Verfügung stehende Regeln)Kenntnis der Wertstellungsregeln Kenntnis zahlreicher Fachwörter und ihrer speziellen Syntax (=Lehre vom Satzbau) in Fachworttexten Kenntnis von idiomatischen (=Spracheigentümlichkeit eines Menschen, eines Landes) Wendungen, Wörtern und Sprachgebrauchsweisen aus früheren JahrhundertenNormatives Wissen (grammatisch und logisch mögliche Formen der Deutschen (Gebärden-) SpracheGrammatikalische RegelnHandlungswissen (in konkreten Situation des sprachlichen Handelns greifen Individuen auf ein abrufbares Handlungswissen (Habitus) zurückSprachliche Ausdrücke

Wie sieht dies nun im Einzelnen aus?

Eine Familie mit Kinder, alle hörend.
Eltern sprechen Schweizerdeutsch und geben ihre eigene Erstsprache an ihre Kinder weiter. Kinder erwerben die Sprache (Erstsprache) auf natürliche und ungesteuerte Art von den Eltern und aber auch tagtäglich aus der Umwelt (auf der Strasse, Verwandten, etc.). Sie hören alles. In der Schule lernen die Kinder später gesteuerter Spracherwerb, also sprachliche deutsche Grammatik, von den Lehrern. Sie können sich mit ihrer Sprache bewusst auseinandersetzen und sich damit noch mehr vertraut machen. Z.B. grammatikalische Wörtern zuordnen in Schubladen verben”, Nomen”, etc. In der Regel haben sie somit die Möglichkeit, ihre Sprache vollumfänglich” zu erwerben.

Eine Familie mit Kinder, davon 1 Kind ist gehörlos und alle hörend.
Eltern merken erst spät, dass ihr Kind nicht hören kann, oft erst nach dem ersten Lebensjahr. Somit ist bereits ein Jahr Spracherwerb verloren gegangen. Seine spezifische Fähigkeit, die Wahrnehmung über das Auge, konnte dementsprechend auch nicht gefördert werden. Nun wird zuerst viel diskutiert, wie es hören soll , mit Hörgeräte oder mit CI. Egal wie entschieden wird, die Zeit läuft .Bis es mit CI (aber auch mit dem Hörgerät) vertraut ist, braucht es auch wieder wertvolle Zeit. Mit diesen Hilfsmitteln muss das Hören zuerst erlernt werden, es ist nicht wie bei hörenden Kindern ein ungesteuertes Lernen, sondern bereits da muss ein gesteuertes Lernen stattfinden. Dies benötigt ebenfalls sehr viel Zeit. Mittlerweile ist das Kind nun 3 Jahre alt und es hat immer noch keine Sprache erworben. Die ganzen Bemühungen sind nur defizitorientiert. Seine Ressource, die Wahrnehmung über das Auge, bleibt weiterhin ungefördert, wird aber im Stillen weiter gepflegt. Es gibt Zeiten, wo es ohne hören auskommen muss (Defekt CI, Schwimmen, Krank, oder einmal den Wunsch nicht hören zu wollen Pause”). Das Kind nimmt alles mit Augen wahr, was ihre Familienmitgliedern macht. Beobachtet Mundbewegungen, Mimik und Handeln. Trotzdem, es versteht oft Zusammenhänge nicht, was genau gesprochen wird. Mit seinen hörenden Geschwistern wird auch Schriftdeutsch gesprochen und oft unbewusst gestuliert. Trotz mittlerweile fortgeschrittenem Alter verläuft der Erstspracherwerb weiterhin ungesteuert. Ein gesteuerter Spracherwerb ist nur mit verschiedenen Hindernissen und speziellem Aufwand möglich.

Eine ganze gehörlose Familie, Eltern gehörlos, Kinder gehörlos
Eltern, gehörlose Mutter gebärden und gehörloser Vater spricht und gebärdet mit den Kindern. Dies erlaubt den gehörlosen Kindern einen ungesteuerten Spracherwerb. Sie können alles wahrnehmen, was ihre Familienmitglieder untereinander in Gebärdensprache und Oralsprache kommunizieren. Ein fundierter, vielseitiger Spracherwerb, mit Syntax sowie der Aufbau von Konversations- und Diskursfähigkeiten konnte in der visuelle Sprache erworben werden. Ein Rückstand gegenüber hörenden Kindern im unbewussten bzw. ungesteuerte Spracherwerb gibt es nicht.

In der Gehörlosenschule?
Die LehrerInnen sprechen immer Schriftdeutsch. Während Pausen (Schulpausen, Mittagspause oder auf dem Weg zur Schule/ Zuhause) wird untereinander gebärdet, trotz Gebärdensprach-Verbot. Auf diese Kommunikationsform können sie nicht verzichten, ermöglicht es doch einen wertvollen sprachlichen Austausch untereinander. Ein fortgesetzter, ungesteuerter Spracherwerb ermöglicht ihnen sich mit dieser Sprache immer besser aus zu drucken. Man kann schon von einem Kommunikationsventil” sprechen. Der Gebärdenschatz überholt den Deutschen-Wortschatz so dass der Austausch mit Hörenden nur beschränkt möglich ist. Die Gebärdensprache wird als Erstsprache erlebt, die deutsche Sprache als Zweitsprache.
Diese Diskrepanz zwischen den beiden Sprachen kann jedoch von den LehrerInnen nicht überwunden werden, Erklärungen der Zweitsprache erfolgt ausschliesslich in der Zweitsprache, ein Bezug zur Erstsprache kann infolge fehlender Gebärdenkompetenz seitens der Lehrerschaft nicht geschaffen werden. Da mit dem Erstspracherwerb jedoch auch Normatives und Handlungswissen vermittelt wird, kann diese Aufgabe von der Schule nicht wahrgenommen werden.
Ein gesteuerter Spracherwerb der Erstsprache findet weiterhin nicht statt.

In der Berufsschule?
In der Berufsschule für Hörgeschädigte in Zürich, war leider im Unterricht gleich in der Gehörlosenschulen, dasselbe alle hörenden LehrerInnen in Schriftdeutsch sprechen.
Mittlerweile fast erwachsen, findet immer noch kein bewusster gesteuerten Spracherwerb der Erstsprache statt.

Aus der Schule oder während der Lehre
Zur dieser Zeit findet oft Kontakte mit gehörlosen Fachleute statt, welche selbstbewusst die Gebärdensprache präsentieren. Die jungen Gebärdenden fühlen sich automatisch hingezogen und saugen wie kleine Kinder, bzw. wie ein Schwamm, alles auf und möchten mehr davon wissen. Es ist wie ein Nachholen, was bisher verpasst wurde. Ein Aufblühen der Erstsprache findet statt. Zum ersten Mal wird die Erstsprache als wirklich voll und ganz wahrgenommen. Eine erste, aber weiterhin unbewusste, Auseinandersetzung mit Normatives und Handlungswissen findet statt, die Identität kann endlich gefunden werden. Es gibt ein Einsinken in die gleiche Kultur, gleiche Sprache, gleichen Probleme. Sehr oft passiert in diese Phase, dass nun ein neuer Weg eingeschlagen wir. In dieser Zeit befindet sich oft Gehörlose in den Persönlichkeits-Krise. Der Konflikt mit den Eltern, welche bisher bewusst die Gebärdensprache verdrängt oder einfach nicht benützt haben übersteigt die normalen pubertären Ausmassen. Nicht selten ergibt sich auch eine Wut oder ein Frust auf die hörenden Fachleuten (Logopäden, Lehrern, Medinziner, etc.).
Aber weiterhin findet kein bewusster und gesteuerter Spracherwerb statt.

In der GebärdensprachlehrerIn-Ausbildung Hfh/ SGB:
Während der ganzen Ausbildungszeit wird visuell gerecht und pur in Gebärdensprache kommuniziert. Die Dozenten sind entweder selber Gehörlos oder der Unterricht findet mit Gebärdensprach-DolmetscherInnen statt. Die gehörlosen StudentInnen können sich zum ersten Mal mit fachlichen Themen richtig auseinandersetzen und diskutieren in Gebärdensprache. Ein bewusster und gesteuerter Spracherwerb wird zum ersten Mal geboten: Gebärdensprach-Linguistik. Der grosse Gebärdensprachschatz wird endlich geordnet und eine Zusammenführung der Erst- mit der Zweitsprache kann ermöglicht werden.
Bisher waren die beiden Sprachen unabhängig und unverbunden. Ein Verbinden der Inhalte war nicht möglich, da auch nie bewusst angestrebt oder vorgelebt wurde. Eine Verknüpfung des Gebärdensprachschatz mit dem Deutsch-Wortschatz eröffnete neues Verständnis. Bisher wurden die Wörter der Zweitsprache immer mit anderen Wörter der Zweitsprache mit grossem Aufwand, aber ohne grossen Erfolg erklärt, ein richtiges Verstehen war nicht möglich. Hier stellten wir dann aber fest, dass wir diese Begriffe in Gebärdensprache schon immer benutzten! Nur verbinden konnten wir es bisher nicht. Ein Beispiel: Das Wort unterwürfig”. Fragen wir einen Hörenden was es bedeutet. Dieser versucht uns alles in deutsch gesprochen zu formulieren, was unterwürfig bedeutet. So ungefähr haben wir verstanden was es bedeutet, aber können diesen Begriff trotzdem nicht verankern, weil wir nicht 100% sicher sind. Ein Verknüpfen mit der richtigen Gebärde kann nicht stattfinden. Hätte man diese in Gebärdensprache gezeigt, sofort wäre es für uns Sonnenklar und das Wissen kann im Gehirn abgespeichert werden. So einfach ist es!
Auch eine bewusste und gesteuerte Auseinandersetzung mit Normatives und Handlungswissen findet zum ersten Mal statt. Die eigene Kultur kann reflektiert werden. Uns wurde klarer, dass die eigene Kulturgemeinschaft wichtig ist und in dieser unsere Persönlichkeit entfalten und wachsen kann. Und nur eine gewachsene und entfaltete Persönlichkeit kann sich auch mit anderen Kulturen auseinandersetzten. Und Gehörlose leben tagtäglich in einer anderen Kultur. Dass somit die Probleme ohne diese Entwicklung nicht gelöst werden kann, muss nicht extra geschildert werden. Das ist sehr frustierend erleben zu müssen, aber sobald wir es uns bewusst sind, können wir viel besser umgehen.

Ich persönlich muss zustimmen, ich war total fasziniert diese Ausbildung gemacht zu haben. Da erlebe ich wow, da kann ich endlich mein sprachlichen Wissens voll und ganz erwerben. Zum ersten Mal erlebte ich also eine bewusste und gesteuerten Spracherwerb, nun kann ich verstehen warum oder wie die Gebärdensprache (Linguistik) funktioniert. Ich kann die Gebärdensprache klar in die richtige Schublade (z.B. Handformen, KKL, Raumverben, etc) ordnen. Verstehe die Kulturunterschiede zwischen der Hörenden und der Gehörlosenwelt besser. Dort habe ich meine Basissprache und Identität gefunden. Aber erst mit 24 Jahre alt!!!! Und es war auch bei mir erst der Anfang.

Kultur der Gehörlosen
Spracherwerb ermöglicht Kultur – durch die Gebärdensprache entstand eine eigene Kultur, die genauso eigenständig ist wie die Sprache.
In der Weiterbildung haben wir uns vertieft mit dieser Dynamik  Auseinandergesetzt.
Wir unterschieden: «Gehörlos so» oder «typisch gehörlos»:
Manche Dinge kann man sehr leicht zuordnen, z.B. Technische Hilfsmittel
(Schreibtelefon, Videophone, Natel, etc.) gehören zur Kultur der Gehörlosen, also «typisch Gehörlos»! Also was bedeutet «typisch gehörlos» oder «Gehörlos so»?

«Typisch gehörlos» 
Hier entstehen klare Wertvorstellungen, Gesellschaftsstrukturen, eine Sprachkultur etc. das heisst, die Gehörlosen haben eine eigene Kultur mit Sprache,  Gemeinschaft, Wertvorstellungen, Tradition, etc.
Siehe Kasten.

Gehörlos so!
Oft erwähnen gehörlose, aber auch hörende Fachleute, dass Gehörlose SO sind! Es werden Stereotypen angewendet, infolge von negativen oder schlechten Erfahrungen. Diese entstehen jedoch durch Unwissenheit oder bewusste  Verdrängung der Kultur und der Lebenssituation der Gehörlosen. Aufklärungen innen wie aussen, können dieses «Gehörlos so» zum Verschwinden bringen, «Typisch Gehörlos» wächst jedoch, je mehr Wissen vorhanden ist.

Die von den Kursteilnehmern gemeinsam definierte Kultur der Gehörlosen
Die Gebärdensprache ist eine eigenständige und vollwertige visuelle Sprache mit eigener linguistischer Struktur. Im Gegensatz zur Majorität, besitzt sie bestimmte, typische Verhalten (Ethik) bzw. Ruf-, Essverhalten und spezielle künstlerische  Darstellungsformen (bspw. Poesie, Theater…)
Durch ihre Erfahrungen und Identifikation entsteht eine eigene Ethik, bspw. eine eigene Gehörlosengeschichte und eine eigene Gemeinschaft. Sie vermittelt eigene visuelle Informationen und Technologien. Die Minorität vervielfältigt sich durch eine ursprüngliche, angeborene und erwerbbare Kultur.

Text Marina Ribeaud, erschien in der Zeitschrift visuell plus

Folie zum Vortrag