Visuellpädagogik

Gebärdensprachkultur

KULTUR – GEHÖRLOSENKULTUR : Was soll denn da verschieden sein?
In meinem Lexikon wird Kultur definiert als Überschuss menschlicher Leistung, wenn die grundlegenden Lebensbedingungen erfüllt sind. Das heisst, Kultur ist all das was wir machen oder nicht machen – wenn eine minimale Ernährung, eine warme Kleidung und ein Dach über dem Kopf gesichert sind.
Das bedeutet, dass Kultur durch die Beziehung und die Kommunikation zwischen Menschen entsteht und lebt.
So hat die Menschheit seit Adam und Eva ein riesiges kulturelles Gut geschaffen – und wir schaffen immer noch daran. Ständig wird neue Kultur geschaffen, ständig geht alte Kultur verloren. Neue Generationen werden das kulturelle Erbe übernehmen oder ablehnen, und sicher wieder neues kulturelles Gut schaffen.
Wenn Kultur durch Kommunikation zwischen Menschen entsteht, dann ist Kultur vor allem auf Sprache aufgebaut. Ein zufälliger Blick in die Welt zeigt das klar: Was ist zum Beispiel die italienische Kultur ohne die italienische Sprache? Oder was ist die italienische Sprache ohne die italienische Kultur? Beide sind untrennbar verbunden, das eine ist nicht viel Wert ohne das andere.
In jeder kulturellen Gemeinschaft gibt es wieder kulturelle Minderheitengruppen. Sie haben aus irgend einem Grund andere Bedürfnisse, andere Ideale, andere Lebensumstände als die grosse Mehrheit. Eine solche Minderheitengruppe sind in allen Ländern die Gehörlosen.
Sie sind weitgehend ausgeschlossen von den kulturellen Aktivitäten der normal hörenden Mehrheit. Denn nach meiner Erfahrung laufen rund 90 % der kulturellen Aktivitäten über das Gehör: Theater, Vorträge, Vereinsveranstaltungen, politische Arbeit, Radiosendungen, Film und Fernsehen sind für Gehörlose heute immer noch in den meisten Fällen unzugänglich.
Und was bringt einem das einsame, stille Anschauen eines Meisterwerkes von Picasso, oder von Rembrandt, wenn man nicht mit jemanden entspannt und mühelos darüber diskutieren kann?
Auch Gehörlose leben nicht von Brot allein, auch sie haben Hunger nach Nahrung für Geist und Seele. Es ist darum nicht erstaunlich, dass in praktisch allen Ländern Gehörlose die erste Behindertengruppe waren, die eigene Vereine gegründet haben. Die Pflege der Geselligkeit und der Bildung stand offiziell meist im Vordergrund. Im Grunde genommen ging es aber stets um das gleiche: Um einen Ausbruch aus der täglichen Isolation unter Hörenden, die man kaum verstehen konnte, von denen man nicht verstanden wurde, von denen man als “nicht normal” angesehen wurde, und deren Kultur weitgehend unverständlich und unzugänglich blieb.
Heute möchten Gehörlose immer weniger als Behinderte angesehen werden denn als normale Menschen mit einer anderen Kommunikationsform. Und in den Gehörlosenvereinen können sie sich treffen und sich in ihrer Sprache – der Gebärdensprache – unterhalten. So sind Gehörlose unter Gehörlosen gar nicht mehr behindert und sie können sich genau so entfalten wie alle anderen Menschen.
Und weil die Gehörlosen meist aus einer der rund 10 Schweizerischen Gehörlosenschulen kommen, bringen sie von dort her eine gleiche kulturelle Grundlage mit, sie kennen sich von dort her, sie haben gleiche Interessen und gleiche Probleme im Alltag unter den Hörenden. Das ist eine mehr als ausreichende Grundlage für eine eigenständige Kultur.
Aber bis vor kurzem war auch in der Schweiz das Bewusstsein dafür nicht vorhanden. Oft wehrten sich gutmeinende Eltern und Fachleute gegen die Teilnahme ihrer Schützlinge in den Gehörlosenvereinen und brachten diese Kinder um wertvolle zwischenmenschliche Erfahrungen mit ihresgleichen – aus Unverständnis für ganz normale kulturelle Bedürfnisse.
Zur Gehörlosenkultur gehört, dass man nur miteinander kommuniziert, wenn man sich ansieht. Das “aneinander vorbeireden” das Normalhörende oft unbewusst praktizieren ist so kaum möglich. Der direkte Blickkontakt und die Mimik zeigen schnell, ob der Partner versteht, ob er interessiert oder gelangweilt ist. Denn Gehörlose kompensieren das fehlende Gehör durch eine ausgeprägte Beobachtungsgabe. Der Blickkontakt muss aber jedes Mal hergestellt werden. Das geschieht durch das Antippen mit der Hand, durch Winken aus der Distanz, durch Klopfen auf den Tisch oder den Boden, oder bei grossen Gruppen durch das Ein- und Ausschalten der Beleuchtung.
Die Kommunikation in Gebärdensprache kann dann für Aussenstehende in einem hohen Tempo ablaufen, mit oder ohne Begleitung von meist stimmlosen Lippenbewegungen. Und in der Gebärdensprache gibt es keine Höflichkeitsform, kein “Sie”. Alle sind automatisch per „Du”, auch dies eine Hemmschwelle weniger für eine spontane Kommunikation. Und so können solche ungezwungene Plaudereien unter Gehörlosen oft stundenlang dauern und die Verabschiedung zieht sich generell in die Länge. Gehörlose brauchen dieses Auftanken unter Ihresgleichen, in ihrem Kulturkreis, als Kompensation für die oft mangelnde Kommunikation mit der hörenden Umwelt in der Familie und am Arbeitsplatz.
So ist es nur logisch, dass die grosse Mehrheit der Gehörlosen einen gehörlosen Partner suchen. Denn sie fühlen sich durch die gleiche Kultur eng verbunden. Als Augenmenschen unternehmen Gehörlose auch gerne Reisen ins Ausland. Und die erste Frage in jedem fremden Ort: Wo finde ich Gehörlose? Über die Gebärdensprache ist der Kontakt schnell aufgebaut und Besucher und Besuchter freuen sich meist über die neue Bekanntschaft. Sprachprobleme wie sie Hörende im Ausland erleben sind für Gehörlose weitgehend unbekannt. Die Kultur der Gehörlosen und ihre Gebärdensprache ist weltumspannend!
Zur Gehörlosenkultur gehört auch die künstlerische Verarbeitung der optischen Eindrücke die der Gehörlose tagtäglich aufnimmt. Dies geschieht zum Beispiel in spontan gebildeten Theatergruppen wo mit Gebärdensprache und Pantomime gearbeitet wird. Es gibt auch einzelne Gehörlose die zu richtigen Pantomimenkünstlern geworden sind. Im Ausland gibt es professionelle Theatergruppen die nur aus Gehörlosen bestehen und zum Teil weltweite Tourneen absolvieren.
Mit der wachsenden Anerkennung der Gebärdensprache als vollwertige Sprache tauchen auch immer öfter Gebärdensprach-Dichter auf die ihre Kunstwerke in künstlerischer Gebärdensprache auf der Bühne präsentieren.
Andere Gehörlose benützen die Malerei und die moderne Videotechnik oder die Fotographie für optische Kunstwerke.
Allen diesen Kunstformen der Gehörlosenkultur ist gemeinsam dass sie auf der Sprache dieser Kulturgruppe aufbauen – auf der Gebärdensprache – und dass sie die fehlende Akustik durch eine reiche Welt an Farbe, Form und Bewegung kompensieren.
Kultur – Gehörlosenkultur: Nicht allen das Gleiche, aber jedem das Seine, jedem das was ihm den Hunger von Geist und Seele stillt. Da gibt es doch gar keinen Unterschied – das ist ein menschliches Urbedürfnis das uns das Leben schön und angenehm macht!
Beat Kleeb (gehörlos) 1994
P. S.: Es gibt Leute, die sagen dass Gehörlose in Farbe träumen und Normalhörende nur in Schwarz-Weiß. Wie ist es bei Ihnen? Hat das etwas mit Kultur zu tun?