Hörbehinderte Kinder

Das Recht des gehörlosen Kindes

Das Recht des gehörlosen Kindes, zweisprachig aufzuwachsen*

François Grosjean
Universität Neuchâtel, Schweiz
Übersetzung aus dem Französischen: Nicolas Léwy
Jedes gehörlose Kind hat, unabhängig vom Grad seines Hörverlustes, ein Recht darauf, zweisprachig aufzuwachsen. Damit es seine kognitiven, sprachlichen und gesellschaftlichen Fähigkeiten vollständig erlangen kann, wird das Kind, so zeigt es die Forschung seit vielen Jahren, meistens zwei Sprachen beherrschen und benützen müssen: Gebärdensprache und Lautsprache (letztere schriftlich und wenn möglich mündlich).

Was das Kind mit Sprache bewältigen können muss
Mit Hilfe der Sprache muss das gehörlose Kind, wie das hörende Kind, gewisse Dinge bewältigen können:
1. So früh wie möglich mit Eltern und Familie kommunizieren. Von seinen ersten Lebenstagen an beginnt das hörende Kleinkind, Sprache zu erwerben, unter der Bedingung, dass es der Sprache ausgesetzt ist und sie wahrnehmen kann. Dank dieser frühzeitigen Sprache baut sich eine persönliche und gemütvolle Beziehung zwischen Eltern und Kind auf. Was für das hörende Kind wahr ist, muss auch für das gehörlose Kind gelten. Dieses muss mit Hilfe einer natürlichen Sprache mit seinen Eltern voll kommunizieren können. Diese Verständigung sollte so früh wie möglich beginnen, damit sich eine gemütvolle und gemeinschaftliche Beziehung zwischen Kind und Eltern von beiden Seiten her aufbaut.
2. Sich von jüngstem Alter an kognitiv entwickeln. Mit Hilfe der Sprache bildet das Kind die für seine Entwicklung unentbehrlichen kognitiven Fähigkeiten (Urteilen, Abstrahieren, Sich-Erinnern, usw.) heran. Fehlt die Sprache oder ist nur eine schlecht wahrgenommene, unnatürliche Sprache vorhanden, so wird dies auf die kognitive Entwicklung des Kindes eine unheilvolle Wirkung haben.
3. Mittels Sprache Wissen erwerben. Das Kind erwirbt Wissen über die Welt grossenteils mittels Sprache. Kommunikation mit seinen Eltern und Verwandten, mit anderen Erwachsenen und Kindern erlaubt ihm Erwerb und Übertragung von Kenntnissen. Diese wiederum bilden die unentbehrliche Basis für die Schule. Auch erleichtern sie ihrerseits wieder das Sprachverstehen, denn es gibt ohne Kenntnisse über die Welt kein richtiges Verstehen.
4. Mit seiner Umgebung voll kommunizieren. Das gehörlose Kind muss, wie das hörende Kind, mit den es umgebenden Menschen (Eltern, Geschwistern, anderen Kindern, Lehrpersonen, Erwachsenen, usw.) voll kommunizieren können. Es muss dies mit einem optimalen Anteil am Gespräch und in einer der Situation möglichst angepassten Sprache tun können. Das wird in einigen Fällen die Gebärdensprache sein, in anderen die Lautsprache (in einer ihrer Formen), und manchmal sogar beide Sprachen abwechselnd.
5. Sich in seine zwei Welten eingewöhnen. Nach und nach muss das Kind ein Mitglied der zwei Welten werden, denen es angehört. Es muss sich, zumindest teilweise, mit der hörenden Welt identifizieren, in den meisten Fällen der Welt seiner Eltern und seiner Familie. Aber es muss auch so schnell wie möglich mit der gehörlosen Welt in Kontakt treten. Das Kind muss sich in beiden Welten wohl fühlen und sich mit ihnen, bis zu welchem Grad auch immer, identifizieren können. Alles muss darauf gesetzt werden, dass es diese beiden Welten frühzeitig entdecken und sich ohne Schwierigkeiten in sie integrieren kann.

Die einzige Art, es soweit zu bringen: Zweisprachigkeit
Zweisprachigkeit Gebärdensprache und Lautsprache scheint der einzige offene Weg zu sein, um dem gehörlosen Kind frühzeitige Kommunikation mit seinen Eltern, eine optimale kognitive Entwicklung, Erwerb von Kenntnissen über die Welt, sprachlichen Kontakt mit der Umgebung, sowie Eingewöhnung in die gehörlose und in die hörende Welt zu erlauben.

Welcher Typ von Zweisprachigkeit?
Erstrebt wird eine Zweisprachigkeit, die aus Gebärdensprache und Lautsprache besteht (letztere schriftlich und wenn möglich mündlich). Gewiss, diese zwei Sprachen werden je nach Kind eine unterschiedliche Rolle spielen (Dominieren der Gebärdensprache für die einen, Dominieren der Lautsprache für die anderen, Ebenbürtigkeit der beiden für weitere). Auch muss man verschiedene Arten von Zweisprachigkeit erwarten, da es verschiedene Typen von Gehörlosigkeit gibt und der Kontakt zwischen den zwei Sprachen komplex ist (vier Sprachfertigkeiten, zwei Systeme der Sprachproduktion und zwei des Sprachverstehens). Daraus folgt, dass die Mehrzahl der gehörlosen Kinder dafür bestimmt ist, zweisprachig und bikulturell zu werden, wie es übrigens etwa die Hälfte der Weltbevölkerung ist. Sie werden sich im Alltagsleben zweier Sprachen bedienen und zwei Welten zugehören der gehörlosen Welt und der hörenden Welt.

Welche Rolle spielt die Gebärdensprache?
Von Kindern mit einem hochgradigen Hörverlust sollte die Gebärdensprache als erste Sprache (bzw. als eine der zwei ersten Sprachen) gelernt werden. Diese natürliche Sprache weist einen unbestreitbaren Reichtum und eine vollständige Kommunikationsfähigkeit auf. Im Gegensatz zur Lautsprache erlaubt sie eine frühzeitige, optimale Kommunikation zwischen Eltern und Kleinkind (unter der Bedingung, dass diese sich die Sprache so früh wie möglich aneignen). Sie spornt eine rasche kognitive und gesellschaftliche Entwicklung an, sie dient als Mittel beim Erwerb von Kenntnissen über die Welt, und sie erlaubt dem Kind, sich in die gehörlose Welt (eine seiner zwei Welten) einzugewöhnen, wenn es mit ihr in Kontakt gebracht wird. Die Gebärdensprache erlaubt auch einen erleichterten Erwerb der Lautsprache, sowohl mündlich als auch schriftlich. In der Tat, eine gut verankerte Erstsprache (ob Lautsprache oder Gebärdensprache) fördert stark den Erwerb einer anderen Sprache. Schliesslich garantiert die Gebärdensprache dem Kind zumindest eine gute Sprachbasis, denn man weiss, dass das bei der Lautsprache erreichte Niveau trotz Einsatz grösster Bemühungen und neuester technologischer Mittel häufig unbefriedigend ist. Wer mehrere Jahre auf ein gewisses Niveau in der Lautsprache wartet, ohne in dieser Zeit dem Kind die Sprache zu geben, die ihm von jüngstem Alter an bestens entspricht, eben die Gebärdensprache, riskiert einen Rückstand dieses Kindes in sprachlicher, kognitiver, gefühlsmässiger und gesellschaftlicher Hinsicht.

Welche Rolle spielt die Lautsprache?
Zweisprachig sein bedeutet, zwei Sprachen zu kennen und zu verwenden. Die andere Sprache des gehörlosen Kindes wird also die Lautsprache sein, in mündlicher und/oder schriftlicher Form. Dies ist die Sprache der anderen Welt, der das Kind angehört, der hörenden Welt seiner Eltern, Geschwister, Familie und zukünftigen Kameraden. Wenn Personen seiner Umgebung die Gebärdensprache nicht beherrschen, ist es unumgänglich, dass das Kind mit ihnen, zumindest teilweise, in der Lautsprache kommunizieren kann. Diese Sprache, in schriftlicher Form, wird es auch zu den vielen Kenntnissen führen, die es zunächst zu Hause und später in der Schule erwerben wird. Die Zukunft des gehörlosen Kindes, sein Erfolg in der Schule und im Folgenden seine Entfaltung im Berufsleben werden grossenteils von einem erfolgreichen Erwerb der Lautsprache (zumindest schriftlich) abhängen.

Schlussfolgerung
Es ist unsere Pflicht, dem gehörlosen Kind zu erlauben, zwei Sprachen zu erwerben: die Gebärdensprache (bei hochgradigem Hörverlust als erste Sprache) und die Lautsprache. Das Kind muss dazu mit Benützern der beiden Sprachen in Kontakt treten und eine Notwendigkeit fühlen, diese beide zu gebrauchen. Einzig auf die Lautsprache zu setzen und sich dabei auf die neusten technologischen Fortschritte zu stützen, hiesse eine Wette um die Zukunft des Kindes einzugehen. Es bedeutete bezüglich seiner humanen Entwicklung zu viel riskieren, seine persönliche Entfaltung zu gefährden, und seinen Bedarf, sich in seine zwei Welten einzugewöhnen, abzustreiten. Wie auch immer seine Zukunft aussieht, welche Welt auch immer es dann definitiv wählt (für den Fall, dass es nur eine der zwei Welten auswählt), eine frühzeitige Zweisprachigkeit wird ihm mehr Möglichkeiten für die Zukunft geben als die Einsprachigkeit. Man bedauert nie, zu viele Sprachen zu kennen; man bedauert manchmal bitter, zu wenige zu kennen, vor allem wenn die eigene Entwicklung davon abhängt. Das gehörlose Kind hat ein Recht darauf, zweisprachig aufzuwachsen; es ist unsere Pflicht, es ihm zu ermöglichen.

Für eine PDF-Version dieses Artikels sowie Übersetzungen in 35 Sprachen, darunter vier Gebärdensprachen finden Sie unter: http://francoisgrosjean.ch/the_right_en.html
Referenzen des Autors
Grosjean, F. (1992). Der zweisprachige und bikulturelle Mensch in der hörenden und in der gehörlosen Welt. Informationsheft Nr. 21. Zürich: Verein zur Unterstützung des Forschungszentrum für Gebärdensprache. Ebenfalls erschienen in Das Zeichen, 1993, 24, 183-189.
Grosjean, F. (1996). Bilingualismus und Bikulturalismus: Versuch einer Definition. In H. Schneider & J. Hollenweger (Hrsg.), Mehrsprachigkeit und Fremdsprachigkeit: Arbeit für die Sonderpädagogik? (S. 161-184). Luzern: Edition SZH.
Grosjean, F. (1996). Living with two languages and two cultures. In I. Parasnis (Hrsg.), Cultural and Language Diversity: Reflections on the Deaf Experience (S. 20-37). Cambridge: Cambridge University Press.
Grosjean, F. (2008). The bilingualism and biculturalism of the Deaf. In Grosjean, F. Studying Bilinguals (Chapter 13). Oxford: Oxford University Press.
Grosjean, F. (2008). Die bikulturelle Person: ein erster Überblick. Das Zeichen, 79, 210-219.
Grosjean, F. (2010). Bilingualism, biculturalism, and deafness. International Journal of Bilingual Education and Bilingualism, 13(2), 133-145.
Grosjean, F. (2010). Bilingual: Life and Reality. Cambridge, MA: Harvard University Press.

Der Block des Autors zur Zweisprachigkeit
http://www.psychologytoday.com/blog/life-bilingual
Die Website des Autors mit verschiedenen Interviews
http://francoisgrosjean.ch/

* Zu diesem kurzen Text führten mich reifliche und jahrelange Überlegungen über Zweisprachigkeit und Gehörlosigkeit. Viele Personen, die gehörlose Kleinkinder umgeben (Eltern, Ärzte, Sprachtherapeuten, Lehrpersonen, usw.), erfassen diese oft nicht als zukünftige zweisprachige und bikulturelle Individuen. Mit diesen Personen im Auge habe ich diesen Artikel verfasst. Den folgenden Kolleginnen und Freunden sei für ihre hilfreichen Kommentare und Vorschläge gedankt: Robbin Battison, Penny Boyes-Braem, Eve Clark, Lysiane Grosjean, Judith Johnston, Harlan Lane, Rachel Mayberry, Lesley Milroy, Ila Parasnis und Trude Schermer. Mein Dank geht auch an Nicolas Léwy für die deutsche Übersetzung dieses Textes.