Biologie

Urin

Sicher, Urin ist sozusagen unser Abwasser. Aber auch einer der interessantesten Stoffe unseres Körpers. Die gelbe Flüssigkeit verrät nämlich mehr, als so manchem lieb ist.
Eklig? Der griechische Arzt Hippokrates (460 bis 370 vor Christus) würde uns ein paar Takte erzählen, könnte er miterleben, wie wir beim Thema Urin das Gesicht verziehen. Schliesslich schaute sich Hippokrates schon vor mehr als 2000 Jahren ganz genau an, was ihm seine Patientinnen und Patienten in die Schale pullerten. «Ist der Urin milchig­weiss», schrieb der Gelehrte, «deutet dies auf eine entzündete Seele hin.» Entdeckte er dagegen Blut im Urin, mussten seiner Meinung nach Nieren oder Blase Schaden genommen haben.
Eine «entzündete Seele» würde heutzutage sicher kein Arzt mehr auf diese Weise diagnostizieren. Wie Hippokrates bitten aber auch moderne Mediziner ihre Patientinnen und Patienten, Urinproben abzugeben. Denn kaum ein anderer Stoff verrät so viel über das Innenleben eines Körpers wie sein «Abwasser». Beim Pinkeln geben wir schliesslich nicht nur überschüssige Flüssigkeit ab. Mit dem Urin werden auch sämtliche Abfallstoffe und Gifte davongeschwemmt, die es aus der Nahrung in unseren Blutkreislauf geschafft haben. Aus ebendiesem Grund müssen Sportler ihren Urin bei Wettkämpfen testen lassen, denn auch Spuren von Dopingmitteln, die sie zu Bestleistungen treiben, kann man im Urin nachweisen. Doch fangen wir von vorn an.
Der Begriff Urin stammt vom altgriechischen ouron (übersetzt «Harn»). Eine treffende Bezeichnung: 100 Milliliter Urin enthalten 95 Milliliter Wasser. Der Rest setzt sich zusammen aus Harnstoff, Harnsäure, einem Abbaustoff der Muskelzellen und Urochromen – so heissen die gelben, stickstoffhaltigen Stoffe, die dem Urin seine Farbe verleihen.
Wie oft ein Mensch das «stille Örtchen» für eine Pullerpause aufsucht, hängt davon ab, wie viel er getrunken hat. Gesunde Männer und Frauen nehmen im Laufe eines Tages etwa 2,5 Liter Wasser zu sich und geben 1,5 Liter als Urin wieder ab. Jeder einzelne Tropfen davon stammt aus den zwei Waschanlagen unseres Blutkreislaufes – den Nieren. In ihrer Rinde, dem eigentlichen Blutfilter, fliesst zu jedem Zeitpunkt bis zu ein Viertel unseres Blutes durch ein verworrenes Netz aus Äderchen und Kanälen. Würde man dieses Netz entwirren, wäre der Strang etwa 80 Kilometer lang!
Alle Stoffe, die dort herausgefiltert werden, und das überschüssige Wasser fliessen als Urin ins Nierenbecken und von dort über den Harnleiter in die Harnblase. Diese kann bis zu ein Liter Flüssigkeit aufnehmen. Doch schon bei einer Füllmenge von etwa 350 Millilitern meldet sie unserem Gehirn «Ich bin voll! Puller-Alarm!»
Was dann unten herauskommt, fingen Hippokrates und seine Berufskollegen für ihre Untersuchungen mit einer Schale, ab dem Mittelalter mit einem birnenförmigen Glaskolben, der Matula, auf.
Dieses Gefäss wurde gegen das Licht gehalten, um die Farbe des Urins zu bestimmen. Denn damals glaubten viele Ärzte, jede einzelne Krankheit gäbe dem Urin eine spezielle Farbe, anhand derer man den Befund ablesen könne. Manche Mediziner untersuchten sogar nur den Urin ihrer Patienten – ohne sich den Kranken selbst anzuschauen. Dafür kosteten sie lieber einen Schluck des gelben Saftes. Schmeckte der zum Beispiel süss, stellten sie die Diagnose «Diabetes», die Zuckerkrankheit.
Farbe und Trübung des Urins kontrollieren Ärzte immer noch. Auf Geschmackproben aber verzichten sie. Stattdessen werden Urinproben mikroskopisch und chemisch untersucht, zum Beispiel mit Teststreifen, die in den Urin getaucht werden. Auf der Oberfläche der Streifen sind bestimmte Chemikalien aufgetragen, die nur mit einem Stoff reagieren. Enthält der Urin diesen Stoff, verfärbt sich der Streifen entsprechend der vorhandenen Menge. Fehlt er, bleibt der Streifen farblos. Auf diese Weise verrät Urin zum Beispiel, ob ein Mensch viel Fleisch isst, ob er an Krankheiten leidet, ob er Drogen oder andere Medikamente genommen hat oder ob eine Frau ein Kind erwartet.
Letzteres testeten auch schon die alten Ägypter mithilfe von Urin – mit überraschend hoher Erfolgsquote: An mehreren Tagen hintereinander liessen sie die vermeintlich Schwangere auf eine Handvoll Weizen- und Gerstenkörner pullern. «Keimt die Gerste, wächst in ihrem Bauch ein Junge heran», heisst es in der Überlieferung. «Keimt der Weizen, wird es ein Mädchen.» Keimte keines der beiden Getreide, lautete das Testergebnis: Nicht schwanger.

Text zur Verfügung gestellt von GEOlino