Dokumentarfilm Organisationen

Das Gehörlosendorf

Ein Film von Dieter Gränicher

Der Dokumentarfilmer Dieter Gränicher macht sich im Frühling 2011 auf, die Welt der Gehörlosen zu erkunden. Einen Monat lang lebt er in einer Institution im Zürcher Oberland, in der Gemeinschaft des Gehörlosendorfs in Turbenthal. Er begleitet die oft mehrfach behinderten Bewohnerinnen und Bewohner in ihrem Alltag, als aufmerksamer, mit zunehmender Vertrautheit immer näher rückender Beobachter. Der Film schildert die Differenziertheit und Lebendigkeit der Gebärdensprache. Er porträtiert Menschen, die ihre behinderungs-bedingten Grenzen mit grosser Ausdruckskraft überwinden und das Gegenüber berühren.

Gedanken des Autors zum Film

Vor zwei Jahren reifte in mir der Entschluss, einen Film über das Gehörlosendorf zu drehen. Ich hatte schon mehrere Male in Institutionen gedreht: Wie leben Menschen, die trotz einer starken Beeinträchtigung ihren Weg finden müssen? Welche Lebensqualität können sie für sich entdecken? Diese Fragen beschäftigten mich immer wieder. Neu waren für mich die Gehörlosigkeit und die Gebärdensprache. Ohne tiefere Kenntnisse davon zu haben, war ich immer fasziniert, wenn ich Gehörlose miteinander im Alltag „sprechen“ sah.

Ich beschloss, einen ganzen Monat mit der Kamera im Gehörlosendorf zu leben. Ich hatte eine eigene Wohnung im Areal und sehr zu ihrem Erstaunen sahen die Bewohner mich Filmer deshalb zu jeder Tageszeit. Dies trug dazu bei, dass die Bewohner Vertrauen zu mir fassten. Ich meinerseits erlebte tagtäglich die Bewohner in ihrer direkten, körperlichen und emotionalen Art. Beziehungen entstanden, obwohl wir kaum miteinander sprechen konnten. Viele der wichtigsten Aufnahmen drehte ich deshalb erst in der letzten Woche, als ich mich mit grosser Selbstverständlichkeit im Gehörlosendorf bewegen konnte.

Ich entschied mich, nie ausserhalb des Areals zu drehen, sondern mich vollständig auf das Leben innerhalb des Gehörlosendorfs zu beschränkten. Das Thema der Gemeinschaft seiner Bewohner mit ihren zusätzlichen Behinderungen ist komplex genug. Ich wollte keine Einzelporträts gestalten, sondern durch die Anlage des Films die Gemeinschaft und ihre Vielfalt herausarbeiten. Natürlich wählte ich zwei Hauptpersonen und wichtige Nebenfiguren aus, doch der Film insgesamt ergibt ein Gesamtbild. Leitlinie waren für mich die grossen Gemälde der frühen Meister, die komplexe Szenen in einem einzelnen Bild vereinen. Als Betrachter steht man vor dem Ganzen, taucht aber mit dem Auge immer wieder in einzelne Details ein, um dann einen Schritt weiter zu einem nächsten Motiv zu gelangen. Eine spezielle Mischung aus Gesamtüberblick und starken Einzelheiten.

Ich merkte bald, dass ich beim Filmen von gebärdenden Gehörlosen nicht zu nahe heran gehen durfte. Damit hätte ich ihre (Gebärden-)Sprache herausquadriert. Das, was nicht im Bild sichtbar ist, kann auch nicht verstanden werden. Diese Eigenart beim Filmen von gebärdenden Gehörlosen führte zu einer ruhigen und beobachtenden Distanz gegenüber den Protagonisten, die ihnen in ihrem körperlichen Ausdruck Raum lässt.

Ich selber bin der Gebärdensprache nicht mächtig und hatte auch nicht den Anspruch, sie verstehen zu lernen. Da ich mehrheitlich ohne eine Dolmetscherin drehte, wusste ich im Moment jeweils nicht, was die Gehörlosen miteinander sprachen. Eine spezielle Form des Blindflugs, die mich manchmal verunsicherte. Sie zwang mich dazu, ganz den Emotionen der Protagonisten zu folgen. Erst im Prozess der Montage zog ich Übersetzerinnen bei und erfuhr, worüber in meinen gefilmten Szenen gesprochen wurde. Es zeigte sich, dass ich weitgehend richtig gehandelt hatte. Eine Erfahrung, die mich stark bewegte und mir einmal mehr – und sehr deutlich – klar machte, dass die Kommunikation unter Menschen viel mehr umfasst als die reine Vermittlung von Inhalten.

Dieter Gränicher, Regie und Kamera

Wozu Musik
für einen Dokumentarfilm mit Gehörlosen? Schliesslich hat er auch keinen Kommentar. Der Film ist ganz darauf angelegt, ohne Elemente des Hörens auszukommen. Er will die Gehörlosen nicht ausschliessen.
Trotzdem gibt es Ton: Geräusche, Bewegungen, unartikulierte Laute, und den für Hörende fremdartigen Stimmklang. Beim Anhören dieser Töne offene Fragen: bedeutet denn Gehörlosigkeit auch Stille? Oder gibt es ein eingeschlossenes Hören, das nur hört, was eben nicht von aussen kommt? Oder Klänge, die ein Hörender nie hören würde? Und: Wie würden sich solche Fragen vermitteln lassen?

So kam es zum Versuch, für diesen Film eine Musik zu finden. Zunächst mit dem Ziel, eine dem Hörenden fremdartige Klangwelt aufzubauen. Eine ‘akousmatische’ Musik, Klangteppiche aus Tönen unbekannter, weil künstlich erzeugter Instrumente. Ohne direkten Bezug zu den Menschen.

Im Verlauf der Arbeit entwickelten diese Klänge jedoch ein Eigenleben. Es war, als suchten sie die Nähe zu den Protagonisten. Zögerlich, weil entgegen der ursprünglichen Absicht, entstanden kleine, improvisierte Melodiefragmente und seltsame Akkordfolgen innerhalb der Klangteppiche. Dann dehnten sich diese Gebilde aus, verliessen ihren zugewiesenen Platz und drängten sich in die unmittelbare Nähe der Protagonisten, versuchten, diese wie eine Aura zu umgeben. Dabei entstand so etwas wie ein sprachloser Dialog mit den gehörlosen Hauptdarstellern, und zugleich schien dieser Dialog genau die Fragen anzusprechen, welche wir uns zu Beginn gestellt hatten.

Florian Eidenbenz, Musik und Tongestaltung
Der Film wurde von Dieter Gränicher zur Verfügung gestellt: www.momentafilm.ch