Honigbiene – Lebenslauf einer Arbeiterin

Honigbienen organisieren sich ohne Befehle zu erteilen oder zu empfangen. Jedes Tier eines Volkes weiss, was es zu tun hat, um der Gemeinschaft förderlich zu sein. Diese Art der Zusammenarbeit beruht auf Schwarmintelligenz. Dabei ist der Lebenslauf einer Arbeiterin genau festgelegt. Gleich nach dem Schlüpfen putzt sie Zellen und pflegt die Brut. Später baut sie Waben, verteidigt das Volk, erzeugt Honig und sammelt Pollen und Nektar.

Die Steuerung des Organismus’ Bienenvolk kennen wir in Ansätzen. An unserem eigenen menschlichen Orga-nismus lassen sich zwei Steuerungssysteme unterscheiden: Einerseits das vegetative Nervensystem, der Teil des Körpers ohne bewusste Steuerung, unser Herz, die Atmung und den Stoffwechsel. Auf der anderen Seite das somatische Nervensystem, welches unseren Kontakt zur Aussenwelt steuert, mithilfe des Bewegungsap-parats, der Wahrnehmung und des Denkens.

Eine ähnliche Differenzierung können wir beim Bienenvolk beobachten. Alles was inneres Leben betrifft, die Brutpflege, der Wabenbau und die Vorratshaltung, kennt keine zentrale Steuerung. Dieses selbstorganisierte Innenleben ist den alltäglichen Arbeiten im Bienenstock gewidmet. Das Aussenleben des Bienenvolkes hinge-gen braucht eine Steuerung. In einem Bienenvolk sind die es die älteren Spurbienen, welche die Aktivitäten im Aussenbereich koordinieren.

Beim selbstorganisierten Innenleben gibt es eine ausgeprägte Arbeitsteilung. Diese ist nach Alter und Bedarf organisiert und wird auch durch die körperlichen Veränderungen der einzelnen Bienen während ihres Lebens-laufs mitbestimmt: Nach ihrer Metamorphose in der Brutzelle zu einem ausgewachsenen, geflügelten Insekt, nagt die junge Biene den Zelldeckel ihrer Brutzelle auf. Sogleich wird sie von ihren Stockgenossinnen mit einem Tropfen Begrüssungstrank willkommen geheissen. Sie kämpft sich aus ihrer Zelle heraus und als putzi-ge kleine Biene mit einem wuscheligen Haarkleid steht sie noch etwas verloren da. Doch dann dreht sie sich um und beginnt unverzüglich, ihre eigene Zelle zu putzen. Das ist ihre erste Arbeit, sie wird rund um die Zelle, aus der sie geschlüpft ist, zur Putzbiene.

Nach ein paar Tagen geht sie zu ihrer nächsten Arbeit über, der Brutaufzucht. Ihr Arbeitsort ist immer noch das zentrale Brutnest. Doch allmählich werden die Kreise unserer schon nicht mehr ganz jungen Biene erwei-tert. Sie wird nun weiter aussen gebraucht, ihr Arbeitsort wird somit aus dem zentralen Brutnest ausgelagert. Im Innern des Brutnests schlüpfen ja bereits weitere Bienen, die ihren Anfängerinnenjob übernehmen.

Am Rand des Wabenbaus gibt es Gelegenheit zum Ausbau. Bauen bedeutet, dass Wachs als Rohstoff aus körpereigenen Drüsen bereitgestellt wird. Nach dem Rückbau der Futtersaftdrüsen im Kopf folgt jetzt die Aktivierung der Wachsdrüsen im Hinterleib. Die feinen Wachsplättchen werden an der Unterseite des Bie-nenkörpers herausgepresst, sorgsam weitergereicht, eingespeichelt und verbaut. Die Wabenpflege beinhal-tet jedoch auch das Reparieren und Desinfizieren bestehender Waben. Die Baubiene erreicht erstmals den Rand des Wabenbaus. Sie hat mittlerweile die erste Hälfte ihres Lebens im Dunkeln des heimischen Stocks verbracht.

Jetzt ist es Zeit, beim Flugloch zu erscheinen und einen ersten Kontakt mit der Aussenwelt aufzunehmen. Beim Fluglochdienst gilt es Wache zu stehen und die ankommenden Bienen auf ihren Stockgeruch zu prüfen. Unsere Biene muss erkennen, wer zutrittsberechtigt ist. Beim Wächterdienst darf sie den Konflikt nicht scheuen, sie muss Unberechtigten den Zutritt verwehren, notfalls mit Gewalt.

Schliesslich kommt die Flugzeit. Zunächst schwebt die Biene übungshalber vor dem Bienenstock herum, bis sie von älteren Bienen in die Welt draussen eingeführt und als volle Flugbiene tätig werden kann. Sie trägt nun Nektar heim, sammelt Pollen, holt Wasser oder Harz von den Bäumen für die Propolisherstellung.

Alte und erfahrene Bienen werden zu Spurbienen und tragen damit mehr Verantwortung. Sie machen die besonders lohnenden Futterquellen für die anderen Flugbienen aus und stellen auch die Bienen, die im Schwarm für eine neue Behausung verantwortlich sind. Die Spurbienen bilden den Rat der ältesten Bienen im Stock, dem vor allem Bienen zwischen dem 20. und 30. Lebenstag angehören. Es konnte festgestellt werden, dass diese Bienen zu den intelligentesten und lernfähigsten Tieren im Stock zählen. Bienen werden im Alter also messbar klüger!

Um den ganzen Organismus des Bienenvolks zu verstehen, müssen wir auch mit dem Vorurteil der fleissigen Bienen aufräumen, denn 60% der Bienen in einem Stock gehen keiner erkennbaren Tätigkeit nach! Doch gerade diese Tiere bilden die mobilisierbaren Reserven, Bienen die bereit sind dort einzuspringen, wo sie, ihrem Alter und ihren Fähigkeiten entsprechend, gebraucht werden. Das Bienenvolk lebt immer in der Fülle. Das zeigen gerade die vielen scheinbar untätigen Bienen, die im Normalfall einen gesunden Bienenstock bevölkern.

Text Irina Schulthess